in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bochum Tausende Heimkinder sollen neuen Studien zufolge zwischen 1945 und 1975 bundesweit Opfer von Medikamentenmissbrauch geworden sein. Das interdisziplinäre Projekt befasst sich mit der Aufarbeitung mutmaßlichen Medikamentenmissbrauchs in Heimen in historischer und ethischer Perspektive. Exemplifiziert werden soll die Thematik im Hinblick auf das Franz Sales Hauses in Essen. Die von dem beteiligten Historiker zu erstellende institutionen- und sozialgeschichtliche Studie auf der Basis verschiedener Quellen der Einrichtung wie auch regionaler und nationaler Archive gilt es in ethischer Perspektive sowohl zeitgeschichtlich zu kontextualisieren als auch vor dem Hintergrund heutiger ethischer Debatten einzuordnen und zu bewerten. Dabei werden unterschiedliche Facetten von Arzneimittelmissbrauch im Kontext der Heimerziehung berücksichtigt und einer differenzierten Analyse unterzogen. Hierbei spielen Fragen nach dem ärztlichen und pädagogischen Fürsorgeethos in der Heimerziehung ebenso eine wichtige Rolle wie auch die noch herauszuarbeitende gesamtgesellschaftliche Akzeptanzbereitschaft unterschiedlicher Formen potentiell missbräuchlichen Umgangs mit Medikamenten. Entsprechend sollen Impulse für einen ethisch verantwortlichen Arzneimitteleinsatz in der gegenwärtigen und künftigen Behindertenarbeit unter Berücksichtigung christlicher Wertvorstellungen erarbeitet werden.
Heimkindern wurden in den Nachkriegsjahrzehnten Medikamente nicht allein aus therapeutischen Gründen verabreicht. In vielen Einrichtungen wurden neue Arzneimittel an Heimkindern getestet, zum Teil unter Inkaufnahme erheblicher Nebenwirkungen. Zudem setzten Ärzte und Erzieher Medikamente als Disziplinierungsmittel ein. Der Historiker Uwe Kaminsky und die Ethikerin Katharina Klöcker beleuchten am Beispiel des Franz Sales Hauses in Essen die lange Zeit verschwiegenen Formen des Medikamentenmissbrauchs in der Heimerziehung der 1950er und 1960er-Jahre. Aktenrecherchen und Zeitzeugeninterviews vermitteln ein umfassendes Bild verschiedener Formen des Medikamenteneinsatzes. Auf der Grundlage der historischen Rekonstruktion wird in diesem Buch erstmals eine ausführliche ethische Bewertung der Medikamentengaben im Heimkontext unter Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Kontextes vorgenommen. Dabei erweist sich die gleichzeitige Berücksichtigung von sozial-, institutionen- und individualethischen Dimensionen als zielführend. Das Autorenteam will einen Beitrag zur Anerkennung des Leids der ehemaligen Heimbewohner leisten und zugleich das Bewusstsein für mögliche Formen des Medikamentenmissbrauchs auch in der Gegenwart schärfen.
Reaktionen auf die Studie: Medienecho, Rezensionen etc.
Rezension in der der US-amerikanischen Zeitschrift History of Pharmacy and Pharmaceuticals 63 (2021) 117-119.
"Angesichts der öffentlichen Debatte zum Thema wurde von medizinischer Seite darauf hingewiesen, dass es für eine moralische Bewertung einer mehrdimensionalen Einordnung hinsichtlich ethischer Richtlinien (Forschungsethik), rechtlicher Bestimmungen (Aufklärung und Einwilligung), Kinder- und Elternrechte sowie fachlicher Aspekte (Indikationen, Dosierungen, Wissensstand um Wirkungen und Nebenwirkungen) bedürfe. Dieser widmen sich daher neuere Studien mit besonderer Sorgfalt, so etwa die Studie von Uwe Kaminsky und Katharina Klöcker zur Medikationspraxis im Franz-Sales-Haus in
Essen in den 1950er Jahren".
"Kaminsky und Klöcker arbeiten die zeitgeschichtlichen Kontexte sorgfältig und präzise heraus, vermeiden aber jede falsche moralische Entlastung der Täter oder eine Relativierung des Leids Betroffener nach dem Motto, „so war das halt damals“. Ebenso entziehen sie einem – nahe liegenden – Empörungs- und Überhebungsgestus aus heutiger Sicht den Boden. Im Gegenteil: Angesichts des nach wie vor möglichen Einsatzes von Psychopharmaka in Heimen oder in der stationären Pflege werfen sie mit einem Prüfkatalog auch die Frage auf, wie später einmal über die Gegenwart geurteilt werden – und ob deren Praxis vor dem dann erreichten Erkenntnisniveau in Medizin, Pädagogik und Ethik Bestand haben wird. Der amtierende Direktor des Franz Sales Hauses, Hubert Vornholt,spricht neben „bedrückenden Erkenntnisse“ und der notwendigen Anerkennung des Leids der Betroffenen auch von wichtigen Lehren aus der Geschichte. Nicht zuletzt das macht den Wert der Bochumer Studie aus."
"Tatsächlich leisten Kaminsky und Klöcker hier Vorbildliches."
"Bereits 2012 und 2016 fanden Wissenschaftler Hinweise auf die Missstände in dem Heim. Kaminsky und Klöcker bohrten - auch mit finanzieller Beteiligung des Franz Sales Hauses - weiter nach. Sie forschten in Büchern, Archiven und über 100 Bewohnerakten, werteten mehr als 120 Berichte von ehemaligen Heimkindern aus, interviewten Betroffene und einen ehemaligen Mitarbeiter. Heraus kam ein düsteres Bild der Heimpädagogik."
"Das Ergebnis ihrer Untersuchung liegt jetzt in Buchform vor. Unter dem sachlichen Titel "Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz Sales Hauses" haben die Autoren Katharina Klöcker und Uwe Kaminsky auf 270 Seiten viel Licht in das erschütternde Kapitel über die Macht der Medikamente im Heim gebracht."