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Markus Gabriels Ethik-Bestseller zu Corona-Krise

Ein Verriss

20.08.2020

Der Shooting-Star der deutschen Philosophie, Markus Gabriel, hat ein Buch zur gegenwärtigen „Krise“ geschrieben. Es trägt den Titel „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert“, den man für anmaßend oder selbstbewusst halten kann (am 20.08.2020 auf der Spiegelbestseller-Liste Platz 6, Tendenz steigend).

In seinem Buch verteidigt Gabriel den moralischen Realismus, d.h. die These, dass es moralische Tatsachen gibt, deren Bestehen von menschlichen Meinungen, Wertungen etc. unabhängig ist. Gleichwohl sind nach Gabriel sämtliche moralischen Tatsachen für uns erkennbar. Er will daher einen „philosophischen Werkzeugkasten zur Lösung moralischer Probleme entwickeln“ (16), so zum „moralischen Fortschritt“ beitragen und helfen die Menschheit – angesichts von Pandemie, Klimakatastrophe, Renaissance autoritärer Regime, Nationalismus, ökonomischer Ungleichheit, Digitalisierung u.v.w.m. – vor einem „Abgrund unvorstellbaren Ausmaßes“ zu bewahren.

Dass die Werkzeuge des Kastens, um es gleich vorweg zu sagen, stumpf bleiben, hat vor allem damit zu tun, dass Gabriel, trotz der enorm hohen Meinung, die er von sich hegt, ein nachlässiger Denker ist. Seine Formulierungen und Begriffsklärungen sind, um im Bild zu bleiben, nicht ausgefeilt, sondern zweideutig, unpräzise und widersprüchlich, die Gegner, mit denen er sich befasst, ausnahmslos Strohmänner, die auch mit bloßer Hand zerrupft werden könnten.

Schludrige Sprache

Schon die ersten beiden Sätze der Schrift sind typisch für Gabriels Stil. Sie lesen sich zunächst plausibel, brechen aber in sich zusammen, sobald man genauer hinschaut: „Es herrscht eine große Aufgeregtheit. Die in den letzten Jahrzehnten spätestens seit dem Mauerfall 1989 für selbstverständlich gehaltenen Werte von Freiheit, Gleichheit, Solidarität scheinen unkontrollierbar ins Wanken geraten zu sein.“ (9)

Wer hielt die Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für selbstverständlich? Deutsche, Europäer, Angehörige der westlichen Welt, Erdbewohner? Die Textilarbeiterin aus Bangladesch? Der Treuhand-Manager? Was hielten sie für selbstverständlich? Die Existenz besagter Werte? Dass man ihnen nachstreben soll? Dass sie für Regierungen und Individuen handlungsleitend sind? Was genau geriet ins Wanken? Die Werte? Der Glaube an die Werte? Die politische Umsetzung der Werte? Wann geriet was auch immer ins Wanken? „In den letzten Jahrzehnten spätestens seit 1989“? Ergibt eine solche Angabe nicht allenfalls unter der Bedingung Sinn, dass man „spätestens seit 1989“ mit Kommata absetzt?

Es gibt Hunderte, wenn nicht Tausende solcher Sätze in dem Buch. Nur zwei Beispiele auf den nächsten Seiten:

„Um Menschenleben zu retten, […] wurde [während der Pandemie] die neoliberale Annahme außer Kraft gesetzt, Marktlogik sei das oberste gesellschaftliche Gebot.“ (10)

Wie kann eine Logik ein Gebot sein? Der Marktlogik zu folgen oder zu gehorchen, mag ein Gebot sein. Aber welcher Autor, ob neoliberal oder nicht, hat jemals behauptet, geschweige denn als Annahme in Kraft gesetzt, dem Markt freien Lauf zu lassen, sei das „oberste gesellschaftliche Gebot“ ­– und nicht etwa nur eine Konsequenz aus Freiheitsrechten des Individuums und/oder das geeignete Mittel zur Erzielung bestimmter gesellschaftlicher Ziele?

„Angesichts der Bedingungen der modernen Arbeitsteilung und der Unübersichtlichkeit der komplexen globalen Produktionsketten brauchen wir einen globalen ‚Geist des Vertrauens‘, also mehr von dem, was wir landläufig als ‚Solidarität‘ bezeichnen.“ (11)

Eine der vielen Stellen, wo Gabriel eine steile These als offensichtlich wahr hinstellt, ohne die geringste Begründung für sie zu liefern. Ich vertraue meinem Arzt, ja man könnte fast sagen, dass ich von einem „Geist des Vertrauens“ zu ihm beseelt bin, aber das heißt nicht, dass ich etwa im Falle einer Pleite solidarisch mit ihm wäre. Und warum kann ich nicht im landläufigen Sinne solidarisch mit einem zu Unrecht beschuldigten Kollegen oder der ausgebeuteten Textilarbeiterin sein, auch ohne darauf zu vertrauen, dass sie in umgekehrter Lage dieselbe Solidarität mit mir zeigten?

Moralische Tatsachen als Kategorienfehler

Sicherlich wird Gabriel etwas mehr Sorgfalt an den Tag legen, wenn er seine zentralen Begriffe einführt, richtig? „Etwas, was wir als Menschen tun bzw. unterlassen sollen, bezeichne ich im Folgenden als moralische Tatsache“ (12).

Hmm. Etwas, was wir als Menschen tun sollen, ist eine Handlung. Eine Handlung ist aber keine Tatsache. Schon gar nicht ist eine Handlung, die ich erst noch tun soll, eine Tatsache. Das sieht man spätestens dann, wenn ich mich entscheide, die Handlung zu unterlassen. Dass ich etwas tun soll, nicht das, was ich tun soll, ist eine moralische Tatsache – wenn man denn überhaupt moralische Tatsachen annehmen will.

Der für das Verständnis des moralischen Realismus, dem Thema seines Buchs, wichtigste Begriff wird von Gabriel also mit Hilfe eines Kategorienfehlers eingeführt! Aber das ist ja nur die Einleitung. Im Hauptteil wird Gabriel die Verwirrung bestimmt ausräumen:

„Eine Tatsache ist eine objektiv bestehende Wahrheit. […] Doch auch im Bereich der Werte gibt es Tatsachen ­– moralische Tatsachen. Viele glauben heute implizit oder explizit, dass es keine moralischen Tatsachen gibt, dass also nicht objektiv feststeht, was wir in einer gegebenen Situation aus moralischen Gründen tun und was wir unterlassen sollen.“ (46f.)

Dröseln wir das mal auseinander. Zunächst: Was ist für Gabriel eine objektiv bestehende Wahrheit? Ich bin nicht ganz sicher – wie könnte man? –  tippe aber auf das Folgende: Ein wahrer Satz (Proposition, Sachverhalt), dessen Wahrheit nicht von dem abhängt, was Individuen, Gruppen, Kulturen glauben o.Ä. (vgl. 33, auch 16). Gibt es auch subjektiv bestehende Wahrheiten, d.h. Sätze, deren Wahrheit davon abhängt, was Menschen glauben? Falls nicht, warum sagt Gabriel dann nicht einfach „Eine Tatsache ist eine Wahrheit?“ Hier ist ein Kandidat für eine subjektiv bestehende Wahrheit: „Christian glaubt, dass Bescheidenheit eine Tugend ist“. Der Satz ist wahr und seine Wahrheit ist abhängig von dem, was Individuen glauben. Es ist aber auch eine Tatsache, dass Christian glaubt, dass Bescheidenheit eine Tugend ist. Also ist es falsch, dass etwas genau dann eine Tatsache ist, wenn es eine objektiv bestehende Wahrheit (in Gabriels Sinne) ist. Wir kommen nicht umhin anzuerkennen, dass Tatsachen schlicht wahre Sätze (Propositionen, Sachverhalte) sind.

Was soll es heißen, dass es „im Bereich der Werte“ (moralische) Tatsachen „gibt“? Nun, wenn der Supermarktansager verkündet, dass die Megaduper Crunchies im Lebensmittelbereich zu finden seien, so darf ich annehmen, dass Megaduper Crunchies ein Lebensmittel sind. Sind moralische Tatsachen also Werte? Das kann nicht sein – auch wenn Gabriel bisweilen das Gegenteil behauptet (170) –, denn Tatsachen sind ja, wie gesehen, wahre Sätze, Werte sind aber ganz bestimmt keine wahren Sätze. Man muss Gabriel daher wohl analog zu einem Wissenschaftler verstehen, der sagt: „Im Bereich der Elemente gibt es chemische Wahrheiten.“ Klar, ein Chemiker würde nicht so reden, aber welcher Chemiker ist schon ein Bestsellerautor? Moralische Tatsachen gibt es für Gabriel also „im [räumlichen, begrifflichen, metaphysischen?] Bereich der Werte“, ohne dass es sich bei ihnen selbst um Werte handelt. Vielleicht meint der auf Kriegsfuß mit der deutschen Sprache stehende Gabriel aber auch nur: bezogen auf den Bereich der Werte gibt es moralische Wahrheiten? Man kann es nicht wissen. Haben wir aus all diesem Kuddelmuddel irgendetwas hinsichtlich moralischer Tatsachen oder Werte besser verstanden? Ich meine nicht.

Weiter: Gabriel unterstellt, dass, weil Tatsachen immer „objektiv“ bestehen, auch moralische Tatsachen, falls sie überhaupt bestehen, objektiv bestehen. Da aber die Voraussetzung der Unterstellung falsch ist, braucht Gabriel eine andere Begründung für die Objektivität moralischer Tatsachen. Doch die liefert er (hier jedenfalls) nicht. Er hat also auch nicht gezeigt, dass wenn eine Person glaubt, dass (im Gabrielschen Sinne) niemals objektiv feststeht, was wir in einer gegebenen Situation aus moralischen Gründen tun sollen, sie auch darauf festgelegt ist zu glauben, dass es keine moralischen Tatsachen gibt. (Notabene: Was der Unterschied zwischen „implizitem“ und „explizitem“ Glauben sein soll, ist ebenfalls in höchstem Maße erläuterungsbedürftig, wird aber nirgendwo erläutert.)

Springen wir zurück zur Einleitung:

 „Moralische Tatsachen melden allgemeine, alle Menschen betreffende Ansprüche an und definieren Kriterien, anhand derer unser Verhalten zu bewerten ist.“ (12)

Was zum Henker soll es heißen, dass eine Tatsache etwas anmeldet oder dass eine Tatsache Kriterien definiert? Ist das eine rhetorische Figur? Falls ja, verstehe ich sie nicht. Eine andere sich aufdrängende Frage:  Gibt es moralische Tatsachen, die auf eine ganz bestimmte Situation bezogen sind: z.B. „Christian soll seine Frau am 13.08.2020 nicht über das belügen, was er am Vortag getan hat“? Falls es solche moralischen Tatsachen gibt (meine Frau meint übrigens „ja“), wäre es falsch zu sagen, dass moralische Tatsachen (immer) „die Ansprüche aller Menschen betreffen“. Gabriel nennt als Beispiele für moralische Tatsachen (40) u.a. „dass man die Umwelt schützen soll“, ja sogar „dass man sich nicht vordrängeln soll“. Aber solche Soll-Aussagen gelten sicherlich nicht ausnahmslos. Es ist gewiss keine moralische Tatsache, „dass man sich nicht vordrängeln soll“, sondern allenfalls, „dass man sich nicht vordrängeln soll, solange keine überwiegenden moralischen Gründe dafürsprechen.“ Solche Feinheiten, Unterscheidungen, Modifikationen machen natürlich Mühe, aber sich Mühe zu machen, ist nicht Gabriels Ding.

„Moralische Tatsachen teilen unser absichtliches rational kontrollierbares Handeln in gute und böse Handlungen, zwischen denen der Bereich des moralisch Neutralen liegt, also der Bereich dessen, was erlaubt ist.“ (12)

Der Bereich des moralisch Neutralen ist also der Bereich des Erlaubten. Folglich ist das moralisch Gebotene nicht erlaubt. Sicherlich hat Gabriel nur vergessen zu ergänzen „dessen, was erlaubt, aber nicht geboten ist“, oder? Keineswegs, es ist sein voller Ernst:

„Das Gute […], also das schlichtweg Gebotene, ist in diesem Sinne nicht erlaubt, weil nur dann etwas erlaubt ist, wenn man es tun oder unterlassen darf.“ (43)

Nehmen wir an, ich versuche, herauszufinden, welche ethische Position Anna in Sachen Euthanasie vertritt. Ich frage: „Ist es moralisch erlaubt, einer todkranken Patientin Sterbehilfe anzubieten?“ Anna: „Nein, es ist nicht erlaubt.“ Falls Gabriel recht hätte, befände ich mich Weiterhin im Dunkeln über Annas Position, denn es könnte sowohl sein, dass sie es für verboten, als auch, dass sie es für geboten hält, Sterbehilfe anzubieten. Eine solches Ergebnis ist absurd.

Werte-Wirrwarr

Wenden wir uns einem weiteren für Gabriels Anliegen zentralen Begriff zu, dem des Werts. Hier die Stelle aus der Einleitung, wo er ihn einführt.

„Diese drei Bereiche ­– das Gute, das Neutrale und das Böse ­­– sind die ethischen Werte, deren Geltung universal, das heißt kultur- und zeitenübergreifend ist.“ (12f.)

Zunächst einmal ist es mindestens erläuterungsbedürftig, von Werten als Bereichen zu sprechen. Mein Blutalkoholwert liegt zwar in einem bestimmten Bereich, ist aber kein Bereich. Wichtiger noch: Gabriel behauptet hier, dass es nur drei ethische Werte gibt, spricht aber im Lauf des Buches natürlich von allem Möglichen als „moralischem“ Wert. Meint er am Ende, dass es zwar bloß drei ethische Werte, aber viele moralische Werte gibt? Das kann kaum sein, da Gabriel von dem Guten z.B. auch als „Extrempol auf der moralischen Skala“ spricht (43; m. Herv.). Es ist also wohl eher so, dass, obwohl Gabriel mit einigem Tamtam den Unterschied zwischen Ethik und Moral einführt (41f.), er die Ausdrücke „ethischer Wert“ und „moralischer Wert“ austauschbar verwendet. Und dass, wenn Gabriel explizit sagt, es gebe genau drei ethische Werte, er gar nicht meint, es gebe genau drei ethische Werte.

Gabriel: „Ehe wir konkrete moralische Fragen […] behandeln können, müssen wir […] Begriffe klären. Denn wenn unsere Begriffe unklar und verschwommen sind, begehen wir leicht logische Fehler. Es gelingt uns dann nicht, gut begründete und im besten Fall wahre und kohärente Meinungen zu formulieren.“ (41)

Wie steht es um das Verhältnis von moralischen Tatsachen und Werten? Werte sind für Gabriel nicht nur „Bereiche“, sie sind vor allem „Beurteilungsmaßstäbe“ (44; auch 14). Wenn wir mögliche Handlungen „moralisch beurteilen, indem wir erkennbare Maßstäbe ansetzen, greifen wir auf moralische Tatsachen zurück“, die „moralischen Leitplanken menschlichen Verhaltens [d.i. moralische Tatsachen!?] sind „die Quelle für universale Werte“ (16). Auf S. 120 heißt es dann freilich: „Werte funktionieren […] wie Leitplanken“. Werte funktionieren also wie Leitplanken und haben ihre Quelle in Leitplanken? Gabriel hält das offenbar für erhellend.

Auch das Folgende soll gelten: „Die Bewertung von Handlungen im Hinblick darauf, ob sie in den Bereich des Guten, des Neutralen oder des Bösen fallen, bezieht sich auf moralische und nicht-moralische Tatsachen und sortiert diese […] in einen dieser Wertebereiche ein“ (44).

Was war zuerst: die moralischen Tatsachen oder die Werte? Sind moralische Tatsachen die Quelle moralischer Werte oder entscheiden erst Werte darüber, ob eine moralische Tatsache gut, neutral oder böse ist? Noch wichtiger: Wie kann eine moralische Tatsache überhaupt in einen „Wertebereich einsortiert“ werden, wenn es sich bei den paradigmatischen Fällen moralischer Tatsachen, die Gabriel nennt, doch ausschließlich um Sollaussagen handelt?  Eine Sollaussage mag wahr oder falsch sein, aber gewiss ist sie nicht gut oder böse. Dass man Unschuldige nicht foltern soll, ist nicht gut oder böse, es ist einfach so.  Ähnliches gilt für evaluative Sätze. Dass Geiz schlecht ist, ist nicht selbst etwas Schlechtes. Hält Gabriel vielleicht einen Satz wie „Jedes Jahr sterben Tausende an Hunger und Krieg“ für eine böse moralische Tatsache? Dieser Weg ist ihm jedoch verschlossen, da der Bereich moralischer Werte ja auch das Neutrale umfasst, es blieben folglich überhaupt kein nicht-moralischen Tatsachen mehr übrig. Es sieht daher so aus, als könne eine moralische Tatsache vernünftigerweise in keinen Wertebereich „einsortiert“ werden. Paradoxerweise haben moralische Tatsachen (Soll- und Wertaussagen) selbst keinen moralischen Wert, während umgekehrt nicht-moralischen Tatsachen („Tausende sterben an Hunger“) häufig ein solcher Wert zukommt. Ist Gabriel hier womöglich über die Sprache gestolpert und das Wörtchen „diese“ soll sich oben gar nicht auf „moralische und nicht-moralische Tatsachen“ beziehen, sondern auf „Handlungen“? Dann wäre die sich ergebende Aussage „Die Bewertung von Handlungen im Hinblick darauf, ob sie in den Bereich des Guten, des Neutralen oder des Bösen fallen, […] sortiert Handlungen in einen dieser Wertebereiche“ ziemlich redundant. (Vgl. außerdem 165, wo auch wieder moralische Tatsachen in die drei Bereiche „einsortiert“ werden.)

„Das moralisch schlichtweg Gebotene ist das Gute“ (43). Das Gute ist ein Wert, Werte sind Beurteilungsmaßstäbe, also ist ein bestimmter Beurteilungsmaßstab schlichtweg geboten. Ist diese Redeweise verständlich? Nicht ohne weiteres. Vermutlich meint Gabriel, es sei schlichtweg geboten, einem bestimmten Maßstab zu genügen oder zu entsprechen. Ferner: „Das moralisch schichtweg Verbotene ist das Böse“ (43). Das Böse ist auch ein Wert, mithin ein Beurteilungsmaßstab, dem zu entsprechen schlichtweg verboten ist; das Neutrale ein weiterer Maßstab, dem zu entsprechen weder verboten noch geboten ist. Doch warum soll man drei Beurteilungsmaßstäbe annehmen, statt eines einzigen Maßstabs, dessen Anwendung drei mögliche Ergebnisse liefert? Beurteilt man gerechte Handlungen an einem anderen Maßstab als ungerechte Handlungen? Das erscheint abwegig. Wenn man wie Gabriel (aber anders als z.B. Platon) nicht nur das Gute und Gerechte, sondern auch das Böse und Ungerechte für Werte hält, kann man folglich nicht sagen, es handle sich bei Werten um Beurteilungsmaßstäbe. Sie sind allenfalls dasjenige, was man durch die Anwendung von Beurteilungsmaßstäben ermittelt und Handlungen oder Zuständen zuschreibt.

Moralische Tatsachen werden erkannt, indem wir sie erkennen

Kommen wir zu der Frage, ob und wie Werte und moralische Tatsachen erkannt werden.

„Die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen sind wesentlich durch uns erkennbar, also geistabhängig.“ (33)

Der Apfelbaum in meinem Garten ist erkennbar, aber nicht geistabhängig. Dass wir die Pflanze als „Apfelbaum“ klassifizieren, mag geistabhängig sein, nicht jedoch die so bezeichnete Pflanze selbst. „Gut, aber ist der Apfelbaum in deinem Garten auch wesentlich erkennbar?“  Ich denke schon: Wenn er nicht erkennbar wäre, wäre er nicht mein Apfelbaum. Ja mehr noch: Was nicht erkennbar ist, kann kein Apfelbaum sein. „Wenn morgen eine Seuche die gesamte Menschheit auslöscht, Apfelbäume jedoch verschont, wäre der Apfelbaum doch unerkennbar geworden, oder?“ Wieso? Er wurde vor der Seuche erkannt, also ist er auch erkennbar. „Okay, aber Du musst zugeben, dass es mögliche Szenarien gibt, in denen niemand deinen Apfelbaum erkannt hätte.“ Schon, aber daraus folgt nicht, dass es auch mögliche Szenarien gibt, in denen der Apfelbaum unerkennbar ist. Dass er erkennbar ist, heißt ja nur, dass es möglich ist, dass er erkannt wird.

Gabriel muss mit „wesentlich erkennbar“ etwas Stärkeres meinen, wenn er von wesentlicher Erkennbarkeit auf Geistabhängigkeit schließen will. Aber was? Vielleicht, dass moralische Tatsachen nicht bestehen, solange niemand da ist, der sie erkennen kann? Aber das erscheint ausgeschlossen, da Gabriel auch behauptet, dass moralische Tatsachen „immer schon“ gelten (z.B. 40).  Doch wir wollen nicht kleinlich sein, vielleicht meint er bloß, dass sie immer schon gelten, seitdem es Menschen gibt (vgl. 170)? Das hieße allerdings, dass Sätze oder Propositionen, die moralische Tatsachen ausdrücken, ihren Wahrheitswert ändern, abhängig davon, ob Menschen existieren oder nicht. Damit wäre Gabriel nicht nur auf eine extrem kontroverse sprachphilosophische Position festgelegt, er müsste auch zugeben, dass der wahre Satz „Die Menschheit mittels einer Wasserstoffbombe auszulöschen, ist moralisch verwerflich“ falsch (oder unwahr) würde, sobald jemand erfolgreich darin war, die Menschheit auszulöschen. Welcher moralische Realist möchte so etwas behaupten?

Unsere Erkenntnis moralischer Tatsachen ist fallibel. „Ein Wissensanspruch ist fallibel, das heißt fehleranfällig, wenn man mit ihm etwas behauptet, was durchaus auch falsch sein kann, und man keine zwingenden Gründe hat, um den Anspruch einzulösen.“ (44)

Seien wir fair, für Gabriels Verhältnisse ist das fast schon eine präzise Definition. Doch leider ist das Wörtchen „kann“ notorisch zweideutig. Ich rechne unter Zeitdruck im Kopf „96 x 52 = 4.992“. Meine kopfrechnerischen Fähigkeiten (zumal unter Druck) sind ohne Zweifel fallibel, doch folgt daraus schon, dass „96 x 52 = 4.992“ auch falsch sein kann? Keineswegs, mein Anspruch zu wissen, dass „96 x 52 = 4.992“, ist zwar fehleranfällig und trotzdem kann sich (jedenfalls in einem bestimmten Sinne von „können“) nicht herausstellen, dass „96 x 52 = 4.992“ falsch ist. Mathematische Propositionen sind, wenn sie wahr sind, notwendigerweise wahr. „Fallibilität“ zu definieren, ist also sehr viel kniffliger, als Gabriel sich träumen lässt. Ich werde ihm die Arbeit hier nicht abnehmen.

Auf S. 165­–170 beschäftigt sich Gabriel mit der Frage: „Wie wir moralische Tatsachen erkennen können?“ Sein Einstieg:

„[Es] entsteht der Eindruck, wir wüssten letztlich [...], nie mit Gewissheit, was wir tun sollen. Doch das wäre fatal, bedeutete es doch, dass unser moralisches Nachdenken uns im Stich lässt, wenn es gebraucht wird.“ (165)

Moment mal… Hat Gabriel nicht gerade eben noch behauptet, unsere moralische Erkenntnis sei fallibel? Sollten wir angesichts dieser Tatsache, nicht überaus vorsichtig mit dem Anspruch umgehen, mit Gewissheit zu wissen, was wir tun sollen? Warum wäre eine solche Zurückhaltung „fatal“? Zu beanspruchen, etwas zu wissen, ist eine Sache. Zu beanspruchen etwas mit Gewissheit zu wissen, eine ganz andere. Und warum lässt uns unser moralisches Nachdenken „im Stich“, wenn es uns nie oder selten zur Gewissheit führt? Oftmals (auch in moralischen Fragen) ist es angemessener zuzugeben, etwas nicht sicher zu wissen. Ein Gedanke, der Gabriel freilich fremd ist.

Gabriel hatte zuvor schon „moralische Selbstverständlichkeiten“ aufgelistet, von denen er behauptet, dass sie „(beinahe) jedem ohne großes Nachdenken einleuchte[n]“ (155; m. Herv.), darunter: „Konsensueller homosexueller Geschlechtsverkehr ist moralisch neutral“. Beinahe jedem, genau. Die anderen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten kranken daran, dass Gabriel jedweden Kontext ausblendet; z.B. „Geld zu investieren, um den Klimaschutz voranzutreiben, ist gut“. Ist das Investieren auch dann noch gut, wenn man das Geld vorher veruntreut hat? Oder wenn man mit demselben Geld, seinen Angestellten eine Krankenversicherung bezahlen oder den Malariaerreger ausrotten könnte? Zwar erwähnt Gabriel gelegentlich das sog. „Beschreibungsproblem der Ethik“ (161), vergisst es aber auch genauso schnell wieder.

Wie erkennen wir also nun moralische Tatsachen? Gabriels Antwort: Wir erkennen sie eben. „[M]oralische Tatsachen [sind] im Wesentlichen offensichtlich; es ist also prinzipiell, wenn auch häufig nicht ohne größere Schwierigkeiten erkennbar, was wir tun sollen.“ (168) Moralische Wahrheiten sind „im Wesentlichen“, d.h. doch wohl von seltenen Ausnahmen abgesehen, „offensichtlich“ und doch sind sie „häufig“ nicht ohne größere Schwierigkeiten erkennbar. Unser Autor auf der Höhe seiner Kunst.

Ich muss hier abbrechen. Zu sagen, dass Gabriels Überlegungen zu den Grundlagen der Moral und der moralischen Erkenntnis viele Fragen offenlassen, wäre ein Euphemismus. Sie sind ein Desaster.

Wie steht es um den Rest des Buchs? Er ist zu großen Teilen im Leitartikelstil geschrieben, voller Behauptungen und dünn an Argumenten. Aber ich kann das hier nicht im Einzelnen durchgehen. Eine paar der köstlichsten Fehlleistungen Gabriels will ich dem Leser aber nicht vorenthalten. Ich führe sie in loser Reihenfolge auf.

Ideengeschichte

Die „philosophische Hermeneutik“ wird von Gabriel in souveräner Verkennung von 2000 Jahren Philosophiegeschichte mit der „Verstehenslehre des Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer“ (228) identifiziert. Sartre schreibt er den Satz zu „Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt“ (47). Nur, dass der Satz (oder eine Version von ihm) von Dostojewskij stammt. Gabriel über Kant: „Die Grundidee der Universalisierungsformel [des kategorischen Imperativs; CW] besagt, dass diejenige Lebensweise, die wir uns individuell und kollektiv einrichten, nur dann in das gute Spektrum moralischer Werte fällt, wenn sie damit vereinbar ist, dass alle Menschen am Guten teilhaben.“ (147) Man kann nicht einmal mehr erklären, was an der Erläuterung falsch ist, da nichts, aber auch gar nichts an ihr stimmt. Peter Singer ergeht es nicht besser. Ihm wird die Auffassung zugeschrieben, wir seien „aus moralischen Gründen genötigt, die Interessen unserer eigenen Spezies hinter diejenigen von anderen Spezies zu stellen“ (322), obwohl Singer den Speziesbegriff ausdrücklich für keine ethisch relevante Kategorie hält. Noch absurder wird es, wenn Gabriel Singer „biologisch verankerte Identitätspolitik“ vorwirft, „die dem Muster folgen würde, Lebewesen, die unter uns gelitten haben oder leiden, dadurch zu entschädigen, dass wir uns jetzt selbst Leid zufügen“. (322) Überflüssig zu erwähnen, das Gabriel keinen Nachweis liefert, der diese aberwitzige Unterstellung untermauern könnte. Richard Dawkins wird (wiederum ohne Stellennachweis) die Auffassung angedichtet, dass „der Sinn unseres individuellen Lebens in nichts anderem besteht als in der Verbreitung unserer Gene durch Fortpflanzung“ (323), obwohl Dawkins dies Dutzende Male (und zu Recht) als böswilliges Missverständnis seiner Position zurückgewiesen hat. Und so weiter, und so weiter…

Politik

Kennt Gabriel sich in der Weltpolitik besser aus? Nicht wirklich. So listet er auf: „Donald Trump […] Viktor Mihály Orbán, Jarosław Aleksander Kaczyński und viele andere Staatsoberhäupter“ (17). Gabriel vergisst keinen Vornamen, keinen Akzent, auch nicht das „ł“, nur, dass die graue Eminenz Kaczyński niemals polnisches Staatsoberhaupt war, das weiß er nicht (Kaczyński war für kurze Zeit Minister-, aber nie Staatspräsident).

Der amerikanische Theologe und Sanders-Wahlkämpfer Cornel West wird von Gabriel wie folgt zitiert: „Ein Neofaschist glaubt, dass die Herrschaft von großem Militär und großem Geld die Menschen nach ihrer Hautfarbe, ihrer Klasse, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Religion und Nichtreligion einteilt, um sicherzustellen, dass wir übereinander herfallen, anstatt die Eliten an der Spitze zu konfrontieren“ (246). Für mich klingt das ­– auch wenn man über den Ausdruck „Neofaschismus“ streiten kann ­– nach einer zutreffenden Diagnose gegenwärtiger US-Politik. Nicht so für Gabriel: „Diese Argumentation nimmt den angekündigten Universalismus in wenigen Schritten zurück und plädiert für einen Kampf der vermeintlichen Masse gegen die Wirtschaftselite, sodass West die Menschen ebenso in Konfliktgruppen einteilt wie sein als neofaschistisch angeklagter Gegner Trump“ (246). Gabriels Bemerkung ist pure – und nicht einmal besonders geschickte – Demagogie. Man kann kein Universalist sein, wenn man als Teil einer politischen Bewegung die Eliten an der Spitze „konfrontiert“ und eine Beschneidung ihres überproportionalen politischen Einflusses und faire Besteuerung verlangt? Im Ernst? Gabriels Versuch, ausgerechnet West und Bernie Sanders als Speerspitze einer (in der Tat) verfehlten linken Identitätspolitik hinzustellen und eine moralische Äquivalenz zwischen Trump und der Sanders-Kampagne zu insinuieren, kann von jedem sofort als lächerlich durchschaut werden, der den US-Wahlkampf auch nur flüchtig verfolgt hat. Sanders wurde attackiert gerade wegen seiner universalen, nicht von Klasse, Rasse, Alter, sexueller Orientierung, Geschlecht oder Religion geprägten Vorstellung von einem guten Leben für alle. Andere Kandidaten (Buttigieg, Harris, Klobuchar etc.) haben die Identitätskarte ausgespielt, er nicht (oder nur erkennbar halbherzig). Sanders musste sich gegenüber Buttigieg sogar dafür rechtfertigen, das Recht auf kostenlose Universitätsbildung für alle festschreiben zu wollen – selbst für die Superreichen.

Eine Kostprobe von Gabriel, dem Rechtsphilosophen, gefällig? „An diesem brachialen Beispiel sieht man, dass die Idee der Demokratie nicht darin bestehen kann, dass jede Minderheit, deren freie Willensausführung durch Institutionen eingeschränkt wird, (wozu ja neben den Pädokriminellen etwas auch Einbrecher, Mörder sowie Verfassungsfeinde gehören), das moralische und legal verbriefte Recht hat, eine Partei zu gründen, um die politischen Leitplanken der Gesellschaft zu verschieben“ (50). Doch, jeder hat (in Deutschland) das Recht eine Partei zu gründen, selbst Pädokriminelle, um für rechtliche Reformen (wie die Straffreiheit von konsensuellem Sex mit Kindern) zu streiten. Parteien dürfen in Deutschland nur dann verboten werden, wenn sie verfassungswidrig sind, was nach gängiger Rechtsprechung erst dann der Fall ist, „wenn [die Partei] die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung […] nicht anerkennt [und] eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukomm[t]“. Eine Partei aus Pädokriminellen, die sich auf friedlichem Wege für straffreien konsensuellen Sex mit Kindern einsetzt, richtet sich nicht „gegen die demokratische Grundordnung“, und schon gar nicht zeigt sie eine „aktiv kämpferische, aggressive Haltung“. Gabriels Beispiel ist, wie fast alles, was er in Sachen „Theorie des Rechtsstaats“ vorbringt, Mumpitz.

Gabriel löst ungelöste Probleme

Darf man um eines höheren Zweckes willen lügen? Manche Autoren (wie Kant) verneinen, die meisten bejahen die Frage. Doch sie alle irren sich, wie Gabriel nach kurzem Nachdenken herausgefunden hat: „Eine Lüge besteht darin, dass jemand wissend und absichtlich etwas, was falsch ist, als etwas ausgibt, was wahr ist (oder umgekehrt), um einen eigenen Vorteil gegenüber der belogenen Person zu erzielen. Ziel der Lüge ist die Irreführung einer Person zur Vorteilsgewinnung. Sagt man die Unwahrheit, um eine Familie, die sich im Keller versteckt, vor einem grausamen Unrechtsstaat zu schützen, ist dies keine Lüge, weil es nicht darum geht, einen Vorteil zu erlangen, sondern darum die Unversehrtheit einer Familie zu sichern.“ (152) Es ist ein Rätsel, warum in der 2500jährigen Philosophiegeschichte noch niemand auf diese Antwort gekommen ist. Könnte es am Ende damit zu tun haben, dass die Antwort nichts taugt? Wer mit Täuschungsabsicht etwas sagt, was er für falsch hält, lügt. Aus welchen Motiven das geschieht, ist irrelevant. Philosophische Probleme lassen sich nicht einfach dadurch lösen, dass man per Deklamation die Bedeutung von Worten der deutschen Sprache ändert.

Auch im Streit um die Abtreibung erweisen sich alle als blind, nur Gabriel hat den Durchblick: „[Es] erscheint mir offensichtlich, dass wir dank der modernen Molekularbiologie wissen, dass eine befruchtete Eizelle und ebenso ein organisierter Zellhaufen, der rasch nach der Einnistung der befruchteten Eizelle entsteht, noch kein Mensch, sondern ein potenzieller Mensch ist.“ (159) Warum ist das bloß noch niemandem aufgefallen, wie viel Tinte und Ärger hätte man sich sparen können! So ein Zellhaufen weist, wie wir heute wissen, nämlich keine Menschengestalt im Miniaturformat auf, die immer größer wird (160), sondern ist eben nur ein Zellhaufen – Fall geklärt. Doch warum sollte das Menschsein an der typischen Menschengestalt und nicht an der Zugehörigkeit zur Gattung homo sapiens hängen? Der Millimeter große Sprössling eines Mammutbaums gehört zur selben Spezies wie der ausgewachsene Baum und die winzige Schmetterlingsraupe zur selben Spezies wie der Schmetterling. Was ist ein „Mensch“? Müsste man das nicht wissen, bevor man Gabriels These beurteilen kann? Er sagt es uns nicht, weiß aber, dass die Molekularbiologie festgestellt hat, dass ein Zellhaufen kein Mensch ist.

Argumentieren à la Gabriel

Der wohl häufigste Fehler in Proseminararbeiten ist die unangemessene Verwendung von Partikeln wie „folglich“, „also“, „weil“, „sodass“ etc. – ein bei Gabriel epi-, wenn nicht gar pandemisch auftretendes Problem. Nur drei (weitere), besonders drastische Beispiele von unzähligen:

„[Moralische Werte] gelten für alle Menschen überall und zu allen Zeiten, auch wenn dies nicht allen Menschen notwendigerweise völlig klar ist. Deswegen können wir uns über Werte im Irrtum befinden.“ (44)

Nein, nicht deswegen. Die hiesige Hausordnung gilt nicht „überall und zu allen Zeiten“ und trotzdem kann ich mich über sie im Irrtum befinden.

„Wie gesagt, gab es in Nordamerika schon Muslime, ehe der Protestantismus erfunden wurde, sodass es absurd ist, wenn sich der Eindruck verbreitet, die USA seien in irgendeinem relevanten Sinne ein protestantisches Projekt.“ (261)

Wo soll man da anfangen? Erstens sind die USA nicht Nordamerika. Zwar siedelten bereits vor der Reformation (1517) zum Christentum zwangskonvertierte spanische Muslime und muslimische Sklaven in der Karibik, aber nicht auf dem Gebiet der heutigen USA. Zweitens mögen, obwohl es keinerlei Belege dafür gibt, im Zuge spanischer Expeditionen nach Florida Muslime bereits vor Luthers Thesenanschlag ihren Fuß auf heutiges US-amerikanisches Festland gesetzt haben, aber es waren höchstens eine Handvoll und sie blieben nicht lange. Und drittens und am wichtigsten, welchen Unterschied soll es für die Frage, ob die USA als protestantisches Projekt starteten, machen, dass 250 Jahre zuvor Muslime dort lebten? Es ist so, als sagte man, die Tatsache, dass Juden und Christen lange vor Muslimen auf der arabischen Halbinsel lebten, lasse es „absurd“ (Gabriel) erscheinen, von Saudi-Arabien als einem muslimischen Land zu sprechen. Absurd ist hier etwas ganz Anderes.

„Der Mensch wird in vielen Ländern – gerade jenen, in denen eine Ausgangssperre verhängt wird – als Herdentier betrachtet, das nicht wirklich zu moralischen Entscheidungen fähig ist. Die Moral wird in dieser Perspektive außer Acht gelassen, weil die Autoritäten implizit oder explizit daran zweifeln, dass Menschen zu echter moralischer Einsicht fähig sind. Das ist eine mehr oder weniger milde Form des Wertenihilismus.“ (47)

Nein. Wenn die Autoritäten daran zweifeln, dass Menschen zu moralischer Einsicht fähig sind, so lassen sie die Moral gerade nicht außer Acht, sie unterstellen sie vielmehr. Eine fehlende Einsicht kann ja nur dort bestehen, wo auch etwas einzusehen ist. Politikern, die aus Verantwortungsgefühl die mangelnde moralische Einsichtsfähigkeit mancher Bürger in Rechnung stellen, Wertenihilismus vorzuwerfen, ist nicht nur absurd, sondern auch niederträchtig.

Ein Rätsel bleibt

Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: Ich betrachte mich selbst als einen moralischen Realisten und teile viele der Auffassungen Gabriels, etwa, was die Ablehnung von Massentierhaltung, Nationalismus, Postmoderne oder protestantischem Gründungsmythos der USA betrifft. Ich habe außerdem überhaupt nichts dagegen, dass jemand ein populäres Philosophiebuch für die breite Öffentlichkeit schreibt. ABER SO GEHT ES NICHT. Abgesehen von seiner unerträglichen Selbstgefälligkeit und der bodenlosen Qualität der Argumente und Begriffsanalysen, ist auch die Art und Weise, wie Gabriel mit Gegnern umspringt, schwer auszuhalten. Wer seine Kontrahenten als Pappkameraden aufbaut, kann sie weder überzeugen noch etwas von ihnen lernen. Gabriel lässt keinen einzigen namhaften moralischen Antirealisten, Relativisten oder Rechtspositivisten der Gegenwart zu Wort kommen, als handelte es sich bei diesen Leuten unterschiedslos um Idioten oder sinistre Schurken. Die wichtigsten Einwände gegen den moralischen Realismus begegnen gar nicht oder nur als billige Karikatur. Gegner aus der Vergangenheit (Nietzsche, Heidegger, Schmitt) werden zwar nicht gänzlich unterschlagen, ihre Argumente aber verstümmelt. Dabei will Gabriel angeblich „überzeugen“, nicht „überreden“ (41) und plädiert großmütig für „das Prinzip der Nachsicht“ (141).

Andere Schriften, die ich von Gabriel kenne, sind übrigens nur unwesentlich besser. Die Unsitte des name droppings und gönnerhafte Benotung von Kollegen, denen er nicht das Wasser reichen kann, ist dort sogar noch ausgeprägter. Wie ist also der phänomenale Erfolg zu erklären? Ich weiß es nicht. Wer angeregtes Nachdenken über politische und ethische Probleme schätzt, oder verlässliche Informationen über philosophische Debatten sucht, wird in dem Buch nicht fündig. Genauso wenig kann ich mir aber vorstellen, dass irgendjemand sich durch das schlecht zusammengerührte Gebräu gut unterhalten fühlt. Die Vorstellung, dass Menschen Gabriels Werk lesen und es für ein Muster an philosophischer Differenzierungskunst halten könnten, ist Stoff für Albträume.

Im Schwimmbad

Falls jemand glaubt, man müsse dem unbekümmerten und immer noch ziemlich jungen Rheinländer Gabriel, der das Herz am rechten Fleck trägt und im Großen und Ganzen für eine gute Sache streitet, Fehler nachsehen, sei ihm abschließend noch die folgende Anekdote zum Nachdenken empfohlen:

Gabriel geht am Wochenende gerne mit seiner kleinen Tochter schwimmen und anschließend eine Pizza essen. Allerdings ist, wie die beiden zu spät erfahren haben, der Weg zum badinternen Imbiss Kindern neuerdings versperrt, da er durch eine nur für Erwachsene geöffnete Schwimmhalle führt. „Nun, nach einer fünfminütigen Diskussion an der Kasse des Schwimmbads, sagte meine Tochter lauthals zu der so unfreundlichen wie prinzipientreuen Kassiererin, sie sei eine Rassistin gegen Kinder!“ (109) Gabriel platzt dabei vor Stolz auf seine Tochter, auch wenn er einräumt, dass es sich natürlich nicht um Rassismus, sondern nur um einen „moralisch verwerflichen Fall von Altersdiskriminierung gegen Kinder“ gehandelt habe. Er glaubt, dass es ein günstiges Licht auf ihn als Vater wirft, wenn sein fünfjähriges Mädchen eine für wenig mehr als Mindestlohn arbeitende Kassiererin, die nur Anweisungen der Geschäftsleitung befolgt und bei Zuwiderhandeln eine Abmahnung riskiert, als „Rassistin“ beschimpft. Und warum? Weil sie als Professorentochter ausnahmsweise um ein Vergnügen gebracht wird, auf das die Kinder der Kassiererin auch ganz ohne Altersdiskriminierung regelmäßig verzichten.

„Werte für das 21. Jahrhundert!“

Christian Weidemann